Donnerstag, 16. August 2018

Brexit: Europäische Kommission veröffentlicht Mitteilung über Vorbereitung für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU

Die Europäische Kommission hat am 19. Juli 2018 eine Mitteilung angenommen, in der die laufenden Arbeiten zur Vorbereitung auf alle Szenarien des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union dargelegt werden.
Am 30. März 2019 wird das Vereinigte Königreich die EU verlassen und damit zu einem Drittland werden. Dies wird Auswirkungen auf Bürger, Unternehmen und Behörden haben, und zwar sowohl im Vereinigten Königreich als auch in der EU. Dazu gehören beispielsweise wieder eingeführte Kontrollen an der EU-Außengrenze zum Vereinigten Königreich, Unsicherheiten im Hinblick auf die Gültigkeit von vom Vereinigten Königreich herausgegebenen Lizenzen, Bescheinigungen und Genehmigungen sowie uneinheitliche Vorschriften für die Übermittlung von Daten. In Mitteilung werden Mitgliedstaaten und private Akteure aufgerufen, ihre Vorbereitungsanstrengungen zu erhöhen. Der Text folgt damit dem Appell des Europäischen Rates (Artikel 50) vom vergangenen Monat, die Vorbereitungsarbeiten auf allen Ebenen und für alle Ergebnisse zu intensivieren. Zwar arbeitet die EU Tag und Nacht daran, eine Einigung zu finden, die einen geordneten Austritt ermöglicht, doch wird der Austritt des Vereinigten Königreichs – ob mit oder ohne Einigung – zweifelsohne Störungen verursachen, z. B. in den Lieferketten. Da noch immer ungewiss ist, ob zum Austrittsdatum ein ratifiziertes Austrittsabkommen vorliegen oder wie dieses aussehen wird, laufen derzeit Vorbereitungen, die sicherstellen sollen, dass die EU-Organe, die Mitgliedstaaten und die privaten Akteure für den Austritt des Vereinigten Königreichs gerüstet sind. Selbst im Falle einer Einigung wird das Vereinigte Königreich nach dem Austritt kein Mitglied der EU mehr sein und daher auch nicht mehr dieselben Vorteile genießen wie die Mitgliedstaaten. Daher ist es unabhängig von einer möglichen Einigung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich ganz entscheidend, bestmöglich auf den Moment vorbereitet zu sein, in dem das Vereinigte Königreich zu einem Drittland wird. Gleichwohl ist es nicht nur Aufgabe der EU-Organe, sich auf den Austritt des Vereinigten Königreichs vorzubereiten. Alle Betroffenen auf EU-Ebene wie auf nationaler und regionaler Ebene, darunter Wirtschaftsteilnehmer und andere private Akteure, müssen sich in ihrem jeweiligen Verantwortungsbereich verstärkt für sämtliche Szenarien rüsten.
Am 29. März 2017 unterrichtete das Vereinigte Königreich den Europäischen Rat über seine Absicht, aus der Europäischen Union auszutreten. Sofern nicht ein ratifiziertes Austrittsabkommen ein anderes Datum vorsieht oder der Europäische Rat nach Artikel 50 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union im Einvernehmen mit dem Vereinigten Königreich einstimmig beschließt, dass die Verträge ab einem späteren Zeitpunkt keine Anwendung mehr finden, gilt das gesamte Primär- und Sekundärrecht der Union ab dem 30. März 2019 um 00.00 Uhr (MEZ) (Austrittsdatum) nicht mehr für das Vereinigte Königreich. Das Vereinigte Königreich wird dann zu einem Drittland. Die Interessenträger sowie die nationalen und EU-Behörden müssen sich daher auf zwei mögliche Hauptszenarien vorbereiten: Wird das Austrittsabkommen vor dem 30. März 2019 ratifiziert, tritt das EU-Recht ab dem 1. Januar 2021, d. h. nach einer Übergangsphase von 21 Monaten, für das Vereinigte Königreich und in dessen Hoheitsgebiet außer Kraft. - Wird das Austrittsabkommen hingegen nicht vor dem 30. März 2019 ratifiziert, gibt es keine Übergangsphase und das EU-Recht tritt ab dem 30. März 2019 für das Vereinigte Königreich und in dessen Hoheitsgebiet außer Kraft. Dieses Szenario wird als „No deal“ oder als „Sturz in den Abgrund“ bezeichnet. - Im vergangenen Jahr hat die Kommission das gesamte EU-Recht, den sogenannten „Besitzstand der Union“, gesichtet, um zu prüfen, ob der Austritt des Vereinigten Königreichs Änderungen erfordert. Zu diesem Zweck hat die Kommission spezifische gezielte Legislativvorschläge angenommen, um sicherzustellen, dass die EU-Vorschriften nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs in einer Union der 27 weiterhin reibungslos funktionieren werden. Darüber hinaus hat die Kommission mehr als 60 sektorspezifische Vermerke zu den Vorbereitungen auf den Brexit veröffentlicht, um die Öffentlichkeit über die Folgen eines Austritts des Vereinigten Königreichs ohne Austrittsabkommen zu informieren. Gerade die Vermerke im Hinblick auf Gesellschaftsrecht und Internationale Gerichtsbarkeit beleuchten die Schwierigkeiten, die kommen könnten: Gesellschaften des Vereinigten Königreichs wie vor allem Limited oder PLC müssen in den Mitgliedstaaten der EU nicht mehr anerkannt werden. Die Anwendbarkeit des vereinheitlichten europäischen Zivilprozessrechts wird stark eingeschränkt.

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Donnerstag, 5. Juli 2018

Vertragshändler: Der Erfüllungsortsgerichtsstand liegt in dem Mitgliedstaat, in dem die Ware oder Dienstleistung nach dem Vertrag erbracht wird, hilfsweise am Sitz des Vertragshändlers, EuGH C‑64/17-Saey Home & Garden


Der Rechtsstreit vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH C‑64/17) betrifft die Saey Home & Garden NV/SA mit Sitz in Belgien und die Lusavouga-Máquinas e Acessórios Industriais SA (im Folgenden: Lusavouga) mit Sitz in Portugal wegen einer Klage auf Schadensersatz aufgrund der Kündigung des zwischen diesen Gesellschaften in Bezug auf den spanischen Markt geschlossenen Vertriebsvertrags.
In der internationalen Rechtspraxis kommt es häufig vor, dass entgegen aller Beratung kein Gerichtsstand vertraglich festgelegt wird. Oft werden unzureichende Vertragsmuster aus dem Internet benutzt, teilweise ist die Gerichtsstandklausel formwidrig und damit unwirksam.
Gemäß Art. 25 Brüssel 1a-Verordnung (Nr. 1215/2012) können die Parteien einen Gerichtsstand vor allem schriftlich festlegen. Art. 25 lautet:
„(1) Haben die Parteien unabhängig von ihrem Wohnsitz vereinbart, dass ein Gericht oder die Gerichte eines Mitgliedstaats über eine bereits entstandene Rechtsstreitigkeit oder über eine künftige aus einem bestimmten Rechtsverhältnis entspringende Rechtsstreitigkeit entscheiden sollen, so sind dieses Gericht oder die Gerichte dieses Mitgliedstaats zuständig, es sei denn, die Vereinbarung ist nach dem Recht dieses Mitgliedstaats materiell ungültig. Dieses Gericht oder die Gerichte dieses Mitgliedstaats sind ausschließlich zuständig, sofern die Parteien nichts anderes vereinbart haben. Die Gerichtsstandsvereinbarung muss geschlossen werden:

a) schriftlich oder mündlich mit schriftlicher Bestätigung,

b) in einer Form, welche den Gepflogenheiten entspricht, die zwischen den Parteien entstanden sind, oder

c) im internationalen Handel in einer Form, die einem Handelsbrauch entspricht, den die Parteien kannten oder kennen mussten und den Parteien von Verträgen dieser Art in dem betreffenden Geschäftszweig allgemein kennen und regelmäßig beachten.
…“
Die belgische Saey Home & Garden NV/SA hatte erstmals mittels Geschäftsbedingung auf ihrer Rechnung auf ihren Gerichtsstand in Kortrijk hingewiesen. Eine Vereinbarung nach den Buchstaben a oder b war damit nicht mehr möglich, aber auch ein entsprechender Handelsbrauch nach Buchstabe c wurde vom Gerichtshof verneint. Ein solcher nachträglicher Fakturengerichtsstand, wie ihn z. B. Österreich kennt (§ 88 Abs. 2 Jurisdiktionsnorm), ist gemäß Art. 25 Abs. 1c Brüssel 1a-Verordnung – wie der Europäische Gerichtshof jetzt erstmals höchstrichterlich entschieden hat – nicht möglich. Eine Gerichtsstandsklausel in Geschäftsbedingungen ist nur zulässig, wenn der von beiden Parteien unterzeichnete Vertragstext selbst ausdrücklich auf die die Gerichtsstandsklausel enthaltenden allgemeinen Geschäftsbedingungen Bezug nimmt (Urteil vom 7. Juli 2016, C‑222/15 - Hőszig, Rn. 39).
Wo aber liegt dann der Gerichtsstand eines Vertragshändler- oder allgemeiner Vertriebsvertrages?
In Art. 7 Brüssel 1a-Verordnung (Nr. 1215/2012) heißt es:
„Eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann in einem anderen Mitgliedstaat verklagt werden:

1. a) wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre;

b) im Sinne dieser Vorschrift – und sofern nichts anderes vereinbart worden ist – ist der Erfüllungsort der Verpflichtung

– für den Verkauf beweglicher Sachen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie nach dem Vertrag geliefert worden sind oder hätten geliefert werden müssen;

– für die Erbringung von Dienstleistungen der Ort in einem Mitgliedstaat, an dem sie nach dem Vertrag erbracht worden sind oder hätten erbracht werden müssen;

Der Gerichtshof erläutert hierzu in seiner Entscheidung, dass es sich zuallererst um einen Vertrag 
über den Verkauf beweglicher Sachen oder die Erbringung von Dienstleistungen handeln muss. Dienstleistungen seien als Tätigkeit gegen Entgelt zu verstehen.
„Das Kriterium des Vorliegens einer Tätigkeit erfordert nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Vornahme positiver Handlungen und schließt bloße Unterlassungen aus. Dieses Kriterium entspricht bei einem Vertriebsvertrag der charakteristischen Leistung, die der Vertragshändler erbringt, der durch die Gewährleistung des Vertriebs der Erzeugnisse des Lizenzgebers an der Förderung der Verbreitung dieser Erzeugnisse mitwirkt. Dank der ihm nach dem Betriebsvertrag zustehenden Beschaffungsgarantie und gegebenenfalls dank seiner Beteiligung an der Geschäftsstrategie des Lizenzgebers, insbesondere an Aktionen zur Absatzförderung – Umstände, deren Feststellung in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fällt –, ist der Vertragshändler in der Lage, den Kunden Dienstleistungen und Vorteile zu bieten, die ein einfacher Wiederverkäufer nicht bieten kann, und somit für die Erzeugnisse des Lizenzgebers einen größeren Anteil am lokalen Markt zu erobern…
Das nach dieser Bestimmung für die Entscheidung über Klagen aus einem Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen zuständige Gericht ist im Fall der Leistungserbringung in mehreren Mitgliedstaaten folglich das Gericht des Mitgliedstaats, in dem sich der Ort der hauptsächlichen Leistungserbringung befindet, wie er sich aus den Bestimmungen des Vertrags oder, mangels solcher Bestimmungen, aus dessen tatsächlicher Erfüllung ergibt; kann der fragliche Ort nicht auf dieser Grundlage ermittelt werden, so ist auf den Wohnsitz des Leistungserbringers abzustellen“
So bekommt der Rechtsanwender eine einfache Checkliste zur Ermittlung des richtigen Gerichts im Falle eines Vertriebsvertrags an die Hand:

1.      Gibt es einen gültige Gerichtsstandsvereinbarung? Falls nicht, dann 2.
2.      Wo liegt der Ort der hauptsächlichen Leistungserbringung? Falls nicht, dann 3.
3.      Wo ist der Sitz des Vertragshändler/Leistungserbringers?

Nicht zuletzt ergibt sich damit auch ein Gleichlauf zum materiellen Recht nach der Rom I-Verordnung (Nr. 593/2008):

Art. 3 garantiert die freie Rechtswahl.

Art. 4 Abs. 1 lit. f legt fest, dass Vertriebsverträge dem Recht des Staates unterliegen, in dem der Vertriebshändler seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

Mittwoch, 9. Mai 2018

Praxis der Forderungsdurchsetzung in der Europäischen Union – Cross-Border Enforcement


Die Zahlung einer Forderung durch einen Schuldner im Ausland ist nicht nur für Inkassobüros von Belang. Jede internationale Transaktion muss darauf geprüft werden, ob im Falle der Vertragsverletzung eine effektive Geltendmachung der resultierenden Forderung möglich ist. Im Rahmen der Vertragsgestaltung geht es dabei vor allem um die Frage des Gerichtsstands. Die Mandantin ist darüber aufzuklären, ob ein ausländischer Gerichtsstand vorteilhaft gegenüber einem inländischen Gerichtsstand mit anschließender Anerkennung/Vollstreckung im Ausland ist. Grundsätzlich bietet ein inländischer Gerichtsstand für das Erkenntnisverfahren viele Vorteile wie kurze Wege, vertrautes Verfahren, Gerichtssprache und nicht zuletzt einen „Heimvorteil“. Solche Vorteile können sich aber im Falle ungenügender Vollstreckung im Ausland, weil im Inland kein verwertbares Vermögen zur Verfügung steht, ins Gegenteil verkehren. Dabei kommt es nicht nur auf die Gesetzeslage, sondern auch die Möglichkeit der tatsächlichen Durchführung an.
Auf europäischer Ebene hat sich seit dem Brüsseler Übereinkommen vom 27. September 1968 (EuGVÜ - „Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen“) viel getan. Dieser völkerrechtliche Vertrag wurde mit Ausnahme für Dänemark durch die Brüssel-I-Verordnung (EG) Nr. 44/2001 (EuGVVO) abgelöst. Diese wurde wiederum durch die Brüssel Ia-VO vom 10. Januar 2015 von der VO (EU) Nr. 1215/2012 seit 10. Januar 2015 ersetzt.
Gegenüber den EFTA-Staaten (also Island, Norwegen, Schweiz, aber nicht Liechtenstein) gilt weiterhin das inhaltlich fast wörtlich mit der EuGVÜ übereinstimmende Lugano-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (LGVÜ).
Die grundlegende Brüssel Ia-VO wird ergänzt und teilweise ersetzt durch die sogenannten EU-Verordnungen der „2. Generation“, nämlich die Unbestrittene-Forderungen-Vollstreckungstitel-VO (EuVTVO), die Europäischer Zahlungsbefehl- oder Mahnverfahrensverordnung (EuMahnVO), die Europäische Verordnung für geringfügige Forderungen („Small Claims“; EuGFVO) sowie Europäische Kontopfändungsverordnung (EuKpfVO). Bevor eine Forderung geltend gemacht wird, sind deshalb die verschiedenen europarechtlichen Wege zu prüfen:
1.      Brüssel Ia-VO
1.1.    Regelung der Zuständigkeit im Erkenntnis-, Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren
1.2.    Kein Erkenntnisverfahren
1.3.    Zivil- oder Handelssache
1.4.    Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats
1.5.    Anerkennung ohne ein besonderes Verfahren
1.6.    Kein Exequaturverfahren: Vollstreckung ohne Vollstreckbarerklärung
1.7.    Antrag auf Versagung der Vollstreckung
1.7.1. Ordre public
1.7.2. Klagezustellung
1.7.3. Widersprechende Entscheidungen
1.7.4. Internationale Zuständigkeit
2.      Unbestrittene-Forderungen-Vollstreckungstitel-VO (EuVTVO)
2.1.    Nur Vollstreckungs-, kein Erkenntnisverfahren
2.2.    Unbestrittene Forderung
2.2.1. wenn der Schuldner der Forderung entweder ausdrücklich zugestimmt hat,
2.2.2. nicht widersprochen hat,
2.2.3. sie in einer öffentlichen Urkunde anerkannt hat oder
2.2.4. durch Säumnis ein stillschweigendes Zugeständnis begründet.
2.2.5. In Deutschland also vor allem Mahnbescheide und Versäumnisurteile
2.3.    Alle Zivil- und Handelssachen
2.4.    Vollstreckung durch Vorlage der Entscheidung samt Europäischem Vollstreckungstitel
2.5.    Vollstreckung nach dem Recht des Vollstreckungsstaats
2.6.    Antrag auf Versagung der Vollstreckung
2.6.1. frühere Entscheidung
2.6.2. Unvereinbarkeit
3.      Europäischer Zahlungsbefehl oder Mahnverfahrensverordnung (EuMahnVO)
3.1.    Einheitliches Erkenntnisverfahren für unbestrittene Forderungen
3.2.    Zivil- und Handelsrechts
3.3.    Fällige Forderung
3.4.    Antrag durch einheitliches Formblatt in allen EG-Sprachen vor dem zuständigen Mahngericht
3.5.    Bearbeitung durch Rechtspfleger; Überprüfung dem Richter vorbehalten
3.6.    Anwendbarkeit und Zuständigkeit sehr komplex (insbesondere Art. 2 Abs. 2 lit. d MahnVO und Art. 6 Abs. 2 MahnVO)
3.7.    Schwierigkeiten bei der Zustellung
3.8.    Erlass regelmäßig binnen 30 Tagen
3.9.    Ohne Einspruch ergeht Europäischer Vollstreckungstitel.
3.10. Vollstreckungsverfahren nach dem Recht des Vollstreckungsstaates ohne weitere Vollstreckbarkeitserklärung durch ein Gericht
1.      Europäische Verordnung für geringfügige Forderungen („Small Claims“; EuGFVO)
1.1.    Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahren auch streitiger Forderungen
1.2.    Für Zivilrechtstreitigkeiten bis 2.000 € (de lege ferenda: 5.000 €)
1.3.    Einfache Verfahrenseinleitung mittels Formblatt
1.4.    Kein Anwaltszwang
1.5.    Grundsätzlich schriftliches Verfahren; ausnahmsweise Videokonferenz
1.6.    Freibeweis
1.7.    Zügige Verfahrensbeendigung durch klare Fristenvorgaben
1.8.    Kostenerstattung durch die unterlegene Seite mit Höhenbegrenzung
1.9.    EU-weit vollstreckbare Entscheidung
1.10. Gewährleistung der Verkehrsfähigkeit über Bestätigung mittels Formblatt
1.11. Kein Vollstreckungsschutz wie nach Brüssel 1a-VO (Antrag auf Versagung der Vollstreckung)
2.      Europäische Kontopfändungsverordnung (EuKpfVO)
2.1.    Vorläufiges Erkenntnisverfahren mit beschränkter Vollstreckung; entspricht Arrestverfahren in Deutschland
2.2.    Anwendbar für Europäischen Wirtschaftsraum
2.3.    Zivil- und Handelssachen
2.4.    Vor, während und nach Erlangung einer gerichtlichen Entscheidung möglich
2.5.    Beschleunigtes Verfahren
2.6.    Kurze Fristen (Art. 18 EuKoPfVO)
2.7.    Anleitungen zur Beantragung online in den Sprachen der Mitgliedsstaaten
2.8.    nur vorläufige Pfändung / keine Einziehung
3.      Fazit:
Die Vollstreckbarkeit von Forderungen im europäischen Ausland hat sich in den letzten Jahren erheblich verbessert. Bei Anwendung der richtigen Verordnung ist effektiver Rechtsschutz möglich. Ein deutscher Gerichtsstand ist damit nicht zuletzt attraktiver geworden.





Freitag, 23. Februar 2018

Zwei Verfahren ermöglichen dem Oberlandesgericht Stuttgart, die Anforderungen an die Dringlichkeit im einstweiligen Verfügungsverfahren im Wettbewerbs-/Markenrecht klarzustellen

Seine Geschwindigkeit macht das einstweilige Verfügungsverfahren attraktiv. In diesem Bereich der immateriellen Güter muss schnell staatliche Hilfe zur Verfügung stehen. Demgemäß hat sich das Verfahren aber auf einen Verhandlungstermin zu konzentrieren.
Allen in diesem Bereich tätigen Juristen sind diese formellen Anforderungen geläufig. Manchmal müssen Außenseiter darauf hingewiesen werden.
„Ein Schriftsatznachlass kann im Verfahren der einstweiligen Verfügung nicht gewährt werden“ (OLG Stuttgart Urteil vom 5.1.2017, 2 U 95/16).
„Die Dringlichkeitsvermutung aus § 12 Abs. 2 UWG gilt analog für Unterlassungsansprüche aus dem Markenrecht.“ (OLG Stuttgart Urteil vom12.10.2017, 2 U 162/16).
Zum Antrag auf Schriftsatznachlass führt das Oberlandesgericht aus:
„Ein Schriftsatznachlass kann im Verfahren der einstweiligen Verfügung nicht gewährt werden. Die Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach der Zivilprozessordnung sind auf eine sofortige Entscheidung des Gerichts ausgerichtet, um einen gegebenen Anspruch schnell zu sichern oder die durch eine Zustellung des Antrages geschaffene Rechtsunsicherheit schnell zu beenden. Um diesem Zweck zu genügen, besteht im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes über die auch im Hauptsacheverfahren bestehende Prozessförderungspflicht eine erweiterte Beibringungsobliegenheit. Es ist allein Aufgabe der Parteien, in einem angesetzten Verhandlungstermin vortragen zu können und alle Mittel zur Glaubhaftmachung ihres Prozessvortrages präsent zu stellen; eine Ladung von Zeugen oder Sachverständigen durch das Gericht findet nicht statt. Eine Vertagung der mündlichen Verhandlung zum Zwecke einer Beweisaufnahme oder zur Ermöglichung weiteren Vorbringens scheidet aus, und auch die Gewährung eines Schriftsatznachlasses gemäß § 283 ZPO ist mit dieser gesetzlichen Zielvorgabe unvereinbar (Hans. OLG Hamburg, Beschluss vom 05. Januar 2009 - 5 U 194/07, bei juris Rz. 18; vgl. zu Besonderheiten des Verfahrens auch OLG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil vom 08. November 2013 - 10 U 39/13, bei juris Rz. 17).“
Zur Anwendbarkeit der wettbewerbsrechtlichen Dringlichkeitsvermutung führt das Oberlandesgericht aus:
„Der Senat hält daran fest, dass die Dringlichkeitsvermutung des § 12 Abs. 2 UWG auf Unterlassungsansprüche aus dem Markenrecht analog anzuwenden ist (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 04. Juli 2013 - 2 U 157/12, GRUR-RR 2014, 251). Nach § 12 Abs. 2 UWG wird die durch einen Verstoß kraft Gesetzes vermutete Dringlichkeit für einen Unterlassungsantrag widerlegt, wenn der Gläubiger durch sein Verhalten zu erkennen gibt, dass es ihm mit der Durchsetzung seines Antrages nicht eilig ist. Hauptfallgruppe der Selbstwiderlegung ist die verzögerliche Prozessführung, etwa durch Anträge auf Terminverschiebung oder Fristverlängerung oder ein unverständlich langes Zuwarten zwischen der Erkenntnis von dem Verstoß und der Antragstellung bei Gericht. Den Zeitpunkt der Kenntnisnahme vom Verstoß hat der Schuldner darzulegen und glaubhaft zu machen, da es ihm obliegt, die gesetzliche, durch den Verstoß begründete Vermutung zu widerlegen und nicht bloß zu erschüttern (OLG Stuttgart, Urteil vom 04. Juli 2013 - 2 U 157/12, GRUR-RR 2014, 251, bei juris Rz. 23 ff., m.w.N.); eine gesetzliche Vermutung ist insoweit stärker als ein Anscheinsbeweis und diesem nicht gleichzusetzen.
Der erkennende Senat geht diesbezüglich nicht von einer starren Frist aus. Eine solche fände im Gesetzeswortlaut auch keine Stütze. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senates ist eine Zeitspanne von unter einem Monat - abgesehen von Fällen der besonderen Dringlichkeit, wie sie beispielsweise bei Messe- oder Marktsachen häufig gegeben sein wird - regelmäßig unschädlich, wohingegen ein Zuwarten von über acht Wochen regelmäßig die Dringlichkeitsvermutung widerlegt. Jedoch sind die Besonderheiten des Falles zu berücksichtigen.
Schädlich sind alle Zeitläufte bloßen Zuwartens, die nicht mehr mit einer beschleunigten Sachbearbeitung zum Zwecke der raschen Anspruchsdurchsetzung zu begründen sind (vgl. zum Ganzen auch Köhler, in: Köhler/Bornkamm, UWG, 35. Aufl., 2016, Rn. 3.15 ff. zu § 12 UWG, m.w.N.), so in aller Regel Fristverlängerungs- oder Terminverlegungsanträge im gerichtlichen Verfahren.


Samstag, 13. Januar 2018

Die englische Limited nach dem Brexit

Ein geregelter Brexit wird immer unwahrscheinlicher. Selbst der Bar Council, also die Vereinigung der Barrister des Vereinigten Königreichs, hat seine Reihe der Brexit Papers, die ansonsten sehr viele rechtliche Aspekte de betreffen, um den Bereich Gesellschaftsrechts nicht erweitern können.

Eine englische Limited mit Verwaltungssitz in Deutschland wird mit dem Brexit am 29. März 2019 höchstwahrscheinlich nicht mehr als solche anerkannt werden soll, sondern im Zweifel als offene Handelsgesellschaft, sprich Personengesellschaft behandelt werden. Eine persönliche Haftung der Gesellschafter liegt dann vor. Noch gilt nach dem Bundesgerichtshof in Deutschland die sogenannte Sitztheorie, wonach ausländische Gesellschaften die Vorschriften der Gesellschaftsgründung im Inland beachten müssen, sofern sie hier ihren effektiven Verwaltungssitz haben.

Was können die Gesellschafter einer englischen Limited in Deutschland tun, um die persönliche Haftung auch weiterhin auszuschließen?

1. Formwechsel

Grundsätzlich ist ein Formwechsel nach der Rechtsprechung des EuGH (12.07.2012 - C-378/10-„VALE“) in eine deutsche Gesellschaft, auch eine am ehesten vergleichbare Unternehmergesellschaft (haftungsbeschränkt) möglich. Wegen der fehlenden Normierung ergeben sich aber wegen der Kürze der Zeit praktische Probleme: Muss der Rechtsweg bestritten werden, ist eine positive Gerichtsentscheidung kaum vor dem Wechsel zu erwarten.

2. Verschmelzung

Dieser Weg scheint am einfachsten umsetzbar: Die englische Limited könnte auch mit einer deutschen Gesellschaft verschmolzen werden. Gesetzlich geregelt ist die Verschmelzung für Deutschland in §§ 122a ff. UmwG; entsprechendes gilt aufgrund europäischer Richtlinie im Vereinigten Königreich. Auch hier ist Eile geboten.

3. Wegzug

Als Alarmmaßnahme kommt noch die Verlegung des Verwaltungssitzes ins Vereinigte Königreich in Betracht. Insoweit kommt es „nur“ auf die tatsächliche Sitzverlegung an. Wer zögert, kann so noch sehr kurzfristig die Haftungsbeschränkung der Limited erhalten.

Selbstredend kann die Gesellschaft auch aufgelöst und in anderer Form neu gegründet werden. Ebenso ist die Veräußerung des Vermögens an eine dritte Gesellschaft möglich.

Freitag, 8. Dezember 2017

Das neue Transparenzregister

Mit Wirkung zum 1. Oktober 2017 müssen juristische Person des Privatrechts, eingetragene Personengesellschaften oder vergleichbare Rechtsgestaltungen Angaben über Ihre wirtschaftlich Berechtigten zum dafür neu geschaffenen Transparenzregister melden (Gesetz vom 23. Juni 2017 Bundesgesetzblatt I 2017,1822). Das Geldwäschegesetz wurde neu gefasst und in §§ 18-26 das Transparenzregister geschaffen. Ein Verstoß hiergegen kann mit Geldbußen von bis zu 100.000 € regelmäßig geahndet werden.

Wirtschaftlich Berechtigter ist, wer mehr als 25 % der Kapitalanteile hält oder Stimmrechte kontrolliert oder auf vergleichbare Weise Kontrolle ausübt.

Diese Pflicht zur Meldung trifft auch ausländische Gesellschaften, sogar Trusts, für die der Trustee als rechtlicher Eigentümer verpflichtet ist. Das zuständige Vertretungsorgan der ausländischen Gesellschaft ist zu ermitteln. Was den Trust betrifft, so sind seine verschiedenen Ausprägungen in den einzelnen Jurisdiktionen des Common Law sowie die verschiedenen Arten von Trusts auf international-privatrechtlicher Ebene zu beachten.

Die Offenlegungspflicht berührt gesellschaftsrechtlich vor allem Stimmbindungsvereinbarungen und andere Treuhandverhältnisse, die Regelbeispiele für die Kontrolle auf vergleichbare Weise darstellen. Die nahezu uneingeschränkte Vertraulichkeit solcher Vereinbarungen scheint damit nicht mehr zu gelten. Bis jetzt war es möglich, mit Gesellschaftervereinbarungen neben der eigentlichen Satzung den wirtschaftlich Berechtigten nicht öffentlich zu machen. Nur die Satzung selbst z.B. einer GmbH oder Aktiengesellschaft muss zum Handelsregister eingereicht werden.

Außerdem stellt sich die Frage, wer ein Einsichtsrechts hat. Das Gesetz spricht lapidar von „berechtigtem Interesse“ (§ 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GwG). Inwieweit dieses Interesse mit dem Zweck des Geldwäschegesetzes, hier also die Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung zusammenhängen muss, ist bis jetzt offen.


Weiterhin spannend für jedes Unternehmen ist die Frage, ob ein Verstoß gegen die Offenlegungspflicht wettbewerbsrechtlich, hier also als Vorsprung durch Rechtsbruch gemäß § 3a UWG durch Wettbewerber verfolgt werden kann. Danach handelt unlauter, wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen. Sollen die Angaben über den wirtschaftlich Berechtigten im Transparenzregister also nicht nur der Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung dienen, sondern auch das Marktverhalten regeln? Jedenfalls ist eine solche Entwicklung nicht auszuschließen, sei es durch die Rechtsprechung, sei es durch Ergänzung des Geldwäschegesetzes. Jeder in diesem Bereich tätige Anwalt sollte also schon jetzt Gesellschaftervereinbarungen, die nicht zum Handelsregister eingereicht werden müssen, daraufhin prüfen, ob die Offenlegung im Transparenzregister vertretbar ist. Es droht in jedem Fall das Risiko der Einsichtnahme durch Aufsichts- und Strafverfolgungsbehörden, unter Umständen auch durch Wettbewerber.

Freitag, 3. November 2017

Mitgliedstaaten können Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegen wollen, nicht zur Liquidation verpflichten

Europäischer Gerichtshof, C-106/16-Polbud – Wykonawstwo sp.z o. o.

Aus Luxemburg erhalten wir wieder ein bisschen mehr Gewissheit über grenzüberschreitende Gesellschaftsaktivitäten. Die Rechtsprechung nach dem Urteil C-378/10 VALE, welche grenzüberschreitende Umwandlung unter den Schutz der Niederlassungsfreiheit stellte, wird fortgesetzt. Nicht nur die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes, sondern auch die Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes muss zwischen den Mitgliedstaaten möglich sein. Anders als im Urteil C-210/06 CARTESIO geht es nicht um die Beibehaltung der Gesellschaftsform eines Mitgliedstaats bei Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes in einen anderen Mitgliedstaats. Damals konnte Ungarn verhindern, dass eine in Ungarn eingetragene ungarische Gesellschaft außerhalb Ungarns ihren Verwaltungssitz nimmt („Inländerdiskriminierung“). Dagegen ermöglichte die Niederlassungsfreiheit schon damals einer Gesellschaft die Verlegung in einen anderen Mitgliedstaat, indem sie sich in eine Gesellschaftsform des Rechts dieses Staates umwandelt, ohne dass sie im Zuge der Umwandlung aufgelöst und abgewickelt werden muss, wenn das Recht des Aufnahmemitgliedstaats dies gestattet. Gleiches gilt hier: Die polnische Gesellschaft kann ihren satzungsmäßigen Sitz in Luxemburg nur entnehmen, wenn sie sich unter Beachtung der dafür einschlägigen Normen in eine luxemburgische Gesellschaft umwandelt.

Polbud ist eine Gesellschaft mit Sitz in Polen. Mit einem Beschluss von 2011 entschied ihre außerordentliche Hauptversammlung, den Gesellschaftssitz nach Luxemburg zu verlegen. Dieser Beschluss enthält keinen Hinweis darauf, dass der Verwaltungssitz von Polbud oder der Ort der tatsächlichen Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit ebenfalls nach Luxemburg verlegt worden wäre.

Auf der Grundlage dieses Beschlusses wurde die Eröffnung des Liquidationsverfahrens ins polnische Handelsregister eingetragen und der Liquidator wurde bestellt.

Im Jahr 2013 wurde der satzungsmäßige Sitz von Polbud nach Luxemburg verlegt. Polbud wurde zu „Consoil Geotechnik Sàrl“, einer Gesellschaft luxemburgischen Rechts. Außerdem beantragte Polbud beim polnischen Registergericht die Löschung im polnischen Handelsregister. Dieser Löschungsantrag wurde vom Registergericht abgelehnt.

Gegen diesen Beschluss erhob Polbud Klage. Der im Rechtsmittelverfahren mit der Sache befasste Polnische Oberste Gerichtshof möchte vom Gerichtshof zunächst wissen, ob die Niederlassungsfreiheit für die Verlegung lediglich des satzungsmäßigen Sitzes einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat gilt, wenn die Gesellschaft ohne Verlegung ihres tatsächlichen Sitzes in eine dem Recht dieses anderen Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaft umgewandelt wird. Weiter fragt der Oberste Gerichtshof, ob die Regelung Polens, die die Löschung im Handelsregister davon abhängig macht, dass die Gesellschaft am Ende eines Liquidationsverfahrens aufgelöst wird, mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar ist.

Der europäische Gerichtshof bejaht erwartungsgemäß die Geltung der Niederlassungsfreiheit und verneint die Pflicht zur Liquidation.

Für den vorliegenden Fall gilt demnach, dass Polbud durch die Niederlassungsfreiheit den Anspruch auf Umwandlung in eine Gesellschaft luxemburgischen Rechts erhält, soweit sie die nach luxemburgischem Recht für die Gründung einer Gesellschaft geltenden Voraussetzungen und insbesondere das Kriterium erfüllt, das in Luxemburg für die Verbundenheit einer Gesellschaft mit seiner nationalen Rechtsordnung erforderlich ist.

Außerdem fällt nach Auffassung des Gerichtshofs ein Sachverhalt, bei dem eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft eine Umwandlung in eine dem Recht eines anderen Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaft unter Beachtung des Kriteriums vornehmen will, das in diesem anderen Mitgliedstaat für die Verbundenheit einer Gesellschaft mit seiner nationalen Rechtsordnung erfüllt werden muss, unter die Niederlassungsfreiheit, selbst wenn diese Gesellschaft ihre Geschäftstätigkeit im Wesentlichen oder ausschließlich im ersten Mitgliedstaat ausüben soll. Dass eine Gesellschaft ihren – satzungsmäßigen oder tatsächlichen – Sitz nach dem Recht eines Mitgliedstaats begründet, um in den Genuss günstigerer Rechtsvorschriften zu kommen, stellt für sich allein keinen Missbrauch dar.

Zweitens bemerkt der Gerichtshof, dass eine polnische Gesellschaft wie Polbud zwar grundsätzlich befugt ist, ihren satzungsmäßigen Sitz ohne Verlust ihrer Rechtspersönlichkeit von Polen in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, dass sie aber nach polnischem Recht nur dann im polnischen Handelsregister gelöscht werden kann, wenn zuvor ein Liquidationsverfahren durchgeführt wurde. Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass nach polnischem Recht von der Liquidation die Beendigung der laufenden Geschäfte und die Beitreibung der Forderungen der Gesellschaft, die Erfüllung der Verbindlichkeiten und die Verflüssigung des Gesellschaftsvermögens, die Befriedigung oder Absicherung der Gläubiger, die Erstellung eines Finanzberichts über die Vornahme dieser Handlungen und die Benennung des Verwahrers der Bücher und Unterlagen der Gesellschaft, die abgewickelt wird, umfasst sind. Die polnische Regelung ist, da sie die Liquidation der Gesellschaft verlangt, geeignet, die grenzüberschreitende Umwandlung einer Gesellschaft zu erschweren oder gar zu verhindern. Folglich stellt diese Regelung eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit dar.

Eine solche Beschränkung kann grundsätzlich durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses, etwa den Schutz der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter und der Arbeitnehmer gerechtfertigt sein. Die polnische Regelung sieht jedoch eine allgemeine Verpflichtung zur Liquidation vor, ohne dabei zu berücksichtigen, ob tatsächlich eine Gefahr für diese Interessen besteht, und ohne eine Möglichkeit vorzusehen, weniger einschneidende Maßnahmen zu wählen, durch die diese Interessen ebenso geschützt werden können. Folglich geht eine solche Verpflichtung über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels, die genannten Interessen zu schützen, erforderlich ist.