Europäischer Gerichtshof, C-106/16-Polbud – Wykonawstwo sp.z o. o.
Aus Luxemburg erhalten wir wieder ein bisschen mehr
Gewissheit über grenzüberschreitende Gesellschaftsaktivitäten. Die
Rechtsprechung nach dem Urteil C-378/10 VALE, welche grenzüberschreitende
Umwandlung unter den Schutz der Niederlassungsfreiheit stellte, wird
fortgesetzt. Nicht nur die Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes,
sondern auch die Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes muss zwischen den
Mitgliedstaaten möglich sein. Anders als im Urteil C-210/06 CARTESIO geht es
nicht um die Beibehaltung der Gesellschaftsform eines Mitgliedstaats bei
Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes in einen anderen Mitgliedstaats.
Damals konnte Ungarn verhindern, dass eine in Ungarn eingetragene ungarische
Gesellschaft außerhalb Ungarns ihren Verwaltungssitz nimmt
(„Inländerdiskriminierung“). Dagegen ermöglichte die Niederlassungsfreiheit
schon damals einer Gesellschaft die Verlegung in einen anderen Mitgliedstaat,
indem sie sich in eine Gesellschaftsform des Rechts dieses Staates umwandelt,
ohne dass sie im Zuge der Umwandlung aufgelöst und abgewickelt werden muss,
wenn das Recht des Aufnahmemitgliedstaats dies gestattet. Gleiches gilt hier:
Die polnische Gesellschaft kann ihren satzungsmäßigen Sitz in Luxemburg nur
entnehmen, wenn sie sich unter Beachtung der dafür einschlägigen Normen in eine
luxemburgische Gesellschaft umwandelt.
Polbud ist eine Gesellschaft mit Sitz in Polen. Mit einem
Beschluss von 2011 entschied ihre außerordentliche Hauptversammlung, den
Gesellschaftssitz nach Luxemburg zu verlegen. Dieser Beschluss enthält keinen
Hinweis darauf, dass der Verwaltungssitz von Polbud oder der Ort der tatsächlichen
Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit ebenfalls nach Luxemburg verlegt
worden wäre.
Auf der Grundlage dieses Beschlusses wurde die Eröffnung des
Liquidationsverfahrens ins polnische Handelsregister eingetragen und der
Liquidator wurde bestellt.
Im Jahr 2013 wurde der satzungsmäßige Sitz von Polbud nach
Luxemburg verlegt. Polbud wurde zu „Consoil Geotechnik Sàrl“, einer
Gesellschaft luxemburgischen Rechts. Außerdem beantragte Polbud beim polnischen
Registergericht die Löschung im polnischen Handelsregister. Dieser Löschungsantrag
wurde vom Registergericht abgelehnt.
Gegen diesen Beschluss erhob Polbud Klage. Der im
Rechtsmittelverfahren mit der Sache befasste Polnische Oberste Gerichtshof möchte
vom Gerichtshof zunächst wissen, ob die Niederlassungsfreiheit für die
Verlegung lediglich des satzungsmäßigen Sitzes einer nach dem Recht eines
Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat gilt,
wenn die Gesellschaft ohne Verlegung ihres tatsächlichen Sitzes in eine dem
Recht dieses anderen Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaft umgewandelt
wird. Weiter fragt der Oberste Gerichtshof, ob die Regelung Polens, die die
Löschung im Handelsregister davon abhängig macht, dass die Gesellschaft am Ende
eines Liquidationsverfahrens aufgelöst wird, mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar
ist.
Der europäische Gerichtshof bejaht erwartungsgemäß die
Geltung der Niederlassungsfreiheit und verneint die Pflicht zur Liquidation.
Für den vorliegenden Fall gilt demnach, dass Polbud durch
die Niederlassungsfreiheit den Anspruch auf Umwandlung in eine Gesellschaft
luxemburgischen Rechts erhält, soweit sie die nach luxemburgischem Recht für
die Gründung einer Gesellschaft geltenden Voraussetzungen und insbesondere das
Kriterium erfüllt, das in Luxemburg für die Verbundenheit einer Gesellschaft mit
seiner nationalen Rechtsordnung erforderlich ist.
Außerdem fällt nach Auffassung des Gerichtshofs ein Sachverhalt,
bei dem eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft eine
Umwandlung in eine dem Recht eines anderen Mitgliedstaats unterliegende
Gesellschaft unter Beachtung des Kriteriums vornehmen will, das in diesem
anderen Mitgliedstaat für die Verbundenheit einer Gesellschaft mit seiner
nationalen Rechtsordnung erfüllt werden muss, unter die Niederlassungsfreiheit,
selbst wenn diese Gesellschaft ihre Geschäftstätigkeit im Wesentlichen oder
ausschließlich im ersten Mitgliedstaat ausüben soll. Dass eine Gesellschaft
ihren – satzungsmäßigen oder tatsächlichen – Sitz nach dem Recht eines
Mitgliedstaats begründet, um in den Genuss günstigerer Rechtsvorschriften zu kommen,
stellt für sich allein keinen Missbrauch dar.
Zweitens bemerkt der Gerichtshof, dass eine polnische
Gesellschaft wie Polbud zwar grundsätzlich befugt ist, ihren satzungsmäßigen
Sitz ohne Verlust ihrer Rechtspersönlichkeit von Polen in einen anderen
Mitgliedstaat zu verlegen, dass sie aber nach polnischem Recht nur dann im polnischen
Handelsregister gelöscht werden kann, wenn zuvor ein Liquidationsverfahren durchgeführt
wurde. Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass nach polnischem Recht
von der Liquidation die Beendigung der laufenden Geschäfte und die Beitreibung
der Forderungen der Gesellschaft, die Erfüllung der Verbindlichkeiten und die
Verflüssigung des Gesellschaftsvermögens, die Befriedigung oder Absicherung der
Gläubiger, die Erstellung eines Finanzberichts über die Vornahme dieser
Handlungen und die Benennung des Verwahrers der Bücher und Unterlagen der
Gesellschaft, die abgewickelt wird, umfasst sind. Die polnische Regelung ist,
da sie die Liquidation der Gesellschaft verlangt, geeignet, die
grenzüberschreitende Umwandlung einer Gesellschaft zu erschweren oder gar zu
verhindern. Folglich stellt diese Regelung eine Beschränkung der
Niederlassungsfreiheit dar.
Eine solche Beschränkung kann grundsätzlich durch zwingende
Gründe des Allgemeininteresses, etwa den Schutz der Gläubiger, der
Minderheitsgesellschafter und der Arbeitnehmer gerechtfertigt sein. Die
polnische Regelung sieht jedoch eine allgemeine Verpflichtung zur Liquidation
vor, ohne dabei zu berücksichtigen, ob tatsächlich eine Gefahr für diese
Interessen besteht, und ohne eine Möglichkeit vorzusehen, weniger
einschneidende Maßnahmen zu wählen, durch die diese Interessen ebenso geschützt
werden können. Folglich geht eine solche Verpflichtung über das hinaus, was zur
Erreichung des Ziels, die genannten Interessen zu schützen, erforderlich ist.
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