EuGH, Urt. v. 19.09.2019 – Rs C-527/18 (BGH)
Art. 6 Abs. 1 Satz 1 VO (EG) Nr. 715/2007 über (…) den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge ist dahin auszulegen, dass er Automobilhersteller nicht verpflichtet, unabhängigen Marktteilnehmern Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge in elektronisch weiterzuverarbeitender Form zu gewähren.
Der Gerichtshof verneint eine Pflicht des Kfz-Herstellers zur Ermöglichung des Zugangs für unabhängige Marktteilnehmer zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Kraftfahrzeuge in elektronisch weiterzuverarbeitender Form; ein bloßer Lesezugriff reiche aus.
Der Gesamtverband Autoteile-Handel und unabhängige Marktteilnehmer, die ihm als Mitglieder angehören, verfügen hinsichtlich der von dem Automobilhersteller KIA vertriebenen Fahrzeuge über einen bloßen Lesezugriff auf eine Datenbank, in der die Reparatur- und Wartungsinformationen für diese Fahrzeuge gespeichert sind. Der Gesamtverband verlangte von KIA, dass er selbst und seine Mitglieder über die Informationen der Datenbank auch in elektronisch weiterzuverarbeitender Form verfügen können.
Aus dem geforderten OASIS-Format (Art. 6 Abs. 1 Satz 2 VO (EG) Nr. 715/2007) gehe nicht hervor, dass es den Herstellern vorgeschrieben sei, Zugang zu den Informationen in elektronisch weiterzuverarbeitender Form zu gewähren, da sowohl ein bloßer Lesezugriff als auch eine elektronisch weiterzuverarbeitende Form ermöglichten, die gewünschten technischen Informationen aufzufinden und den Austausch zu erleichtern. Da die in Streit stehende Bestimmung zwischen dem zu gewährenden Zugang, der „uneingeschränkt“ sein müsse, und dem Format, in dem er zu gewähren sei, unterscheide, beziehe sich die Nichtbeschränkung auf den Inhalt der Informationen, die den unabhängigen Marktteilnehmern bereitgestellt werden müssten, und nicht auf die Modalitäten der Bereitstellung.
Der Gerichtshof begründet seine enge Auslegung mit dem Hinweis darauf, dass auch die EU-Kommission selbst lediglich von einem bloßen Lesezugriff ausgegangen sei und auch im späteren Gesetzgebungsverfahren die Möglichkeit der Weiterverarbeitung der bereitgestellten Daten fallengelassen worden war. Zukünftige Regelungen (VO (EU) Nr. 2018/858) könnten dieses Ergebnis nicht beeinflussen.
Das Urteil überrascht. Der Europäische Gerichtshof hängt sehr am Wortlaut, ohne Zusammenhang, Ziel oder praktische Wirksamkeit („effet utile“) einer Vorschrift umfassend zu würdigen.
Mit dem Binnenmarkt unvereinbar und deshalb verboten ist die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt durch ein Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Hierzu können gemäß Art. 103 Verordnungen wie die hier in Streit stehende Verordnung (EG) Nr. 715/2007 beschlossen werden.
Der europäische Gesetzgeber duldet keine Beschränkungen des Ersatzteilemarkts, wie exemplarisch Art. 4 e der Vertikalverordnung (Nr. 330/2010) zeigt. Danach macht die zwischen einem Anbieter von Teilen und einem Abnehmer, der diese Teile weiterverwendet, vereinbarte Beschränkung der Möglichkeit des Anbieters, die Teile als Ersatzteile an Endverbraucher oder an Reparaturbetriebe oder andere Dienstleister zu verkaufen, die der Abnehmer nicht mit der Reparatur oder Wartung seiner Waren betraut hat, als Kernbeschränkung die Vereinbarung insgesamt unwirksam.
Streitgegenständlicher Art. 6 Abs. 1 Satz 1 fordert deshalb von den Herstellern einen Zugang in „… leicht und unverzüglich zugängliche(r) Weise und so, dass gegenüber dem Zugang der autorisierten Händler und Reparaturbetriebe oder der Informationsbereitstellung für diese keine Diskriminierung stattfindet.“
Die enge Auslegung des Gerichtshofs springt zu kurz. Nach seiner eigenen Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift jedoch nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C 414/16, EU:C:2018:257, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung) In einer digitalisierten Welt ist der bloße Lesezugriff eine Marktbeschränkung. Jedenfalls muss ein betroffener, unabhängiger Marktteilnehmer erhöhten Aufwand z.B. in Form einer besonderen Software betreiben, um ausgelesene Daten zu verarbeiten. Schon dieser erhöhte Aufwand behindert den Wettbewerb. Der erhöhte Aufwand des unabhängigen Marktteilnehmers schlägt sich nicht zuletzt in höheren Preisen für Ersatzteile und Reparaturen nieder. Die Versorgung des Endabnehmers und damit der Binnenmarkt sind beeinträchtigt.
Letztendlich wird die Entscheidung des Gerichtshofs durch die neue Verordnung (EG) Nr. 2018/858 überholt, die zum 1. September 2020 in Kraft tritt. Art. 61 Abs. 1 verpflichtet die Hersteller, unabhängigen Wirtschaftsakteuren, den Zugang zu den Ferndiagnosediensten, die von Herstellern sowie Vertragshändlern und -werkstätten genutzt werden, zu gewähren. Die Angaben sind leicht zugänglich in Form von maschinenlesbaren und elektronisch verarbeitbaren Datensätzen darzubieten. Unabhängige Marktteilnehmer erhalten Zugang zu den Ferndiagnosediensten, die von Herstellern sowie Vertragshändlern und -werkstätten genutzt werden. Das ist sicherlich mehr als der bloße Lesezugriff.
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