Die
Schlussanträge von Generalanwältin Laila Medina in der Rechtssache C-588/21 P
betonen die entscheidende Bedeutung des freien und kostenlosen Zugangs zu
europäischen harmonisierten technischen Normen (HTN) für die
Rechtsstaatlichkeit und den Grundsatz der Transparenz in der Europäischen
Union. Die Begründungen für ihre Schlussfolgerungen sind wie folgt:
Generalanwältin
Medina hebt hervor, dass der Gerichtshof bereits anerkannt hat, dass HTN
Rechtswirkungen haben und Teil des Unionsrechts sein können. Dies ist von
entscheidender Bedeutung, da Unionsrecht grundsätzlich nicht urheberrechtlich
geschützt ist. Die Tatsache, dass HTN Rechtswirkungen entfalten und verbindlich
sein können, stützt die Argumentation, dass sie nicht unter das traditionelle
Urheberrecht fallen sollten.
2.
Rolle der Kommission bei der
Annahme von HTN
Die
Generalanwältin betont, dass die Kommission eine zentrale Rolle bei der Annahme
von HTN spielt. Sie leitet den gesamten Prozess zur Erstellung von HTN und
veröffentlicht die Fundstellen im Amtsblatt der Europäischen Union. Dies deutet
darauf hin, dass HTN in Zusammenarbeit mit der Kommission und den europäischen
Normungsorganisationen als Rechtsakte des Unionsrechts anzusehen sind. Diese
maßgebliche Beteiligung der Kommission unterstreicht die Notwendigkeit eines
breiten und transparenten Zugangs zu HTN.
3.
Rechtswirkungen von HTN
Generalanwältin
Medina argumentiert, dass HTN die Vermutung der Konformität mit den wesentlichen
Anforderungen des abgeleiteten Unionsrechts begründen. Dies bedeutet, dass sie
für jede natürliche oder juristische Person, die die Konformität in Frage
stellt, tatsächlich die gleiche Wirkung wie verbindliche Vorschriften haben.
Dies hat direkte Auswirkungen auf die Beweislast und die Verpflichtung der
Mitgliedstaaten zur Übernahme von HTN in nationales Recht. Daher sollten HTN
als Instrumente des Unionsrechts uneingeschränkt zugänglich sein.
4.
Rechtsstaatlichkeit und
Transparenz
Die
Generalanwältin argumentiert, dass die Rechtsstaatlichkeit und der Grundsatz
der Transparenz erfordern, dass alle Bürger in der Europäischen Union freien
Zugang zum Unionsrecht haben. Sie betont, dass keinem Bürger die Möglichkeit
vorenthalten werden darf, offiziell Kenntnis von Inhalten zu nehmen, die ihn
unmittelbar oder mittelbar betreffen könnten. Da HTN Teil des Unionsrechts sind
und Rechtswirkungen entfalten, ist ein kostenloser und freier Zugang zu diesen
Normen unerlässlich, um die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Transparenz
zu gewährleisten.
5.
Vorrang des Zugangs zum Recht vor
Urheberrechten
Schließlich
hebt Generalanwältin Medina hervor, dass selbst wenn HTN urheberrechtlich
schutzfähig wären, der freie Zugang zum Recht Vorrang vor dem Schutz des
Urheberrechts haben sollte. Dies basiert auf dem Grundsatz, dass das
Rechtssystem für alle Bürger zugänglich sein sollte, und dass der Schutz des
geistigen Eigentums nicht dazu führen darf, dass der Zugang zum Unionsrecht
eingeschränkt wird.
Insgesamt
argumentiert Generalanwältin Medina überzeugend dafür, dass HTN aufgrund ihrer
Rechtsnatur, ihrer Rechtswirkungen und der grundlegenden Prinzipien der
Rechtsstaatlichkeit und Transparenz frei und kostenlos zugänglich sein sollten.
Ihre Schlussfolgerungen stützen sich auf eine sorgfältige Analyse der
rechtlichen und institutionellen Aspekte im Zusammenhang mit HTN und haben
erhebliche Implikationen für den Zugang zum Unionsrecht und die Transparenz in
der Europäischen Union.
Im
Licht des Allgemeingültigkeitsanspruchs des Rechts, der im Grundsatz der
Rechtssicherheit seinen Ausdruck findet, muss jeder das Recht kennen können,
welchem er unterworfen ist. Der Rechtsstaatsgrundsatz verlangt, dass die
Unionsnormen jedermann zugänglich gemacht werden; er findet seinen Ausdruck in
Artikel 297 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union
(AEUV).